Wegziehen kommt nicht in Frage
Nach seinem Rücktritt erhielt Markus Nierth, einst Tröglitzer Ortsbürgermeister, jede Woche ein Kuvert gefüllt mit Kot. Das mit den Anfeindungen hat nachgelassen – der Unermüdliche plant bereits ein Begegnungszentrum für Flüchtlinge.
Von Katja Bauer
Es kann einem Eigenartiges passieren, wenn man in Tröglitz durch die Ernst-Thälmann-Straße geht, vorbei an der Brandruine des Hauses, das mal ein Flüchtlingsheim hat werden sollen, aber dann am Ostersamstag in Flammen aufging. Das Haus ist einer von vielen Wohnblöcken aus den 30er Jahren, die sich hier aneinanderreihen.
Autos rappeln übers Kopfsteinpflaster in Richtung Friedensplatz, dem, wenn man so will, zentralsten Ort des Dorfes, einem Karree mit Post, einer alten DDR-Grundschule und einem geschlossenen Supermarkt. Wenn man hier entlanggeht, einfach auf dem Trottoir unter hohen Baumkronen, und dabei ein paar Kastanien aufsammelt, dann kann es passieren, dass man gefragt wird: „Sind das Ihre Kastanien?“ Der Ton ist scharf. Eine Frau aus einem Wohnblock steht in der Haustür, Jogginghose, burgunderroter Kurzhaarschnitt. Schweigen. Die Frage geht prompt zurück: „Sind es denn Ihre?“ Die Frau schnaubt. „Also, ich wohne hier.“
Als Fremder fällt man schnell auf in Tröglitz, erst recht seit diesem Frühjahr. Seit auf einmal ganz Deutschland über den kleinen Ort geredet hat. Das Haus stand in Flammen, der Dachstuhl brannte in der Nacht, am Morgen stank es. Die Fotos von den verkohlten Dachbalken, die wie ein Gerippe in den blauen Himmel stachen, wurden zum Zeichen für die Sorge, dass der Fremdenhass sich Bahn zu brechen drohte in Deutschland.
Gebrannt hatte es vorher schon woanders, in Dresden, Freiberg, Escheburg. Und nachher auch. Die Zahl der Anschläge auf Unterkünfte für Flüchtlinge steigt. Seit Jahresbeginn wurden 490 Einrichtungen für Flüchtlinge angegriffen, mehr als doppelt so viele wie im ganzen Vorjahr. Aber Tröglitz wurde zu einem Symbolbegriff, zu einem jener Ereignisse, an denen Debatten sich wenden. Es ist nicht immer logisch erklärbar, was zusammenkommt, damit aus dem Strom der schlechten Nachrichten eine einzige uns besonders aufrüttelt, besorgt oder erzürnt.
In Tröglitz hat das mit Markus Nierth zu tun. Nierth war im Frühjahr noch Bürgermeister hier, ein Theologe, parteilos für die CDU im Amt seit sechs Jahren, ein ehrenamtlicher Macher. Vier Wochen vor dem Brandanschlag trat Nierth zurück, weil ein NPD-Kreisrat nach wochenlangen „Spaziergängen“ schließlich eine Demo gegen die Flüchtlingsunterkunft bis vor dessen Privathaus organisierte. Nierth, Vater von sieben Kindern, fühlte sich von der Versammlungsbehörde im Stich gelassen, die nichts gegen die Route unternahm. Er war der erste kommunale Politiker, der laut und deutlich über den Druck sprach, dem er als Person ausgesetzt ist, über Anfeindungen, Drohungen, Hass.
Dann kam das Feuer. Tröglitz wurde zum Ort der Schande. Es kamen der Landrat, der Ministerpräsident, das Landeskriminalamt, die Medien. Sie sind alle wieder weg. Markus Nierth ist noch da. Das hier ist sein Zuhause. Die Ernst-Thälmann-Straße mündet an ihrem oberen Ende in den Rest eines Haufendorfs, das mal Burtschütz hieß. Es müssen reiche Bauern hier gelebt haben, die Höfe haben gewaltige Mauern.
Manche Dorfbewohner schauen jetzt zur Seite, wenn sie hier auf der Straße Markus Nierth treffen. Oder sie ziehen die Augenbrauen gerade so weit hoch, dass man das als Grüßen begreifen kann. Nach dem Rücktritt hat ihm eine Frau zugeflüstert, die Straße, in der sie wohne, stehe hinter ihm. Es gibt wenige, die ihn darauf ansprechen, was in den letzten Monaten passiert ist. Manche sagen ihm, dass er mediengeil ist und seine Frau in Wirklichkeit ja auch eine Fremde ist, aus Norddeutschland. Dass er das Dorf um seine Ruhe gebracht hat. Und dass er sich vielleicht an den Flüchtlingen persönlich bereichern will.
Die meisten schweigen. Sie müßten sonst diskutieren. Der Markus, wie ihn fast alle nennen, ist keiner, der ausweicht. Er ist ja mit Absicht immer mittendrin[10][/10].
Als Nierth 1998 hierherkam, da hat er sich den alten Gasthof gekauft, genau in der Mitte des Dorfs. Ein Riesenkasten, eine Ruine, Fachwerk mit Tanzsaal, Stiegen, Innenhof. Jahrelang hat er dran rumgebaut, hat Dächer gedeckt, renoviert, gehämmert. Die Tröglitzer haben zugeschaut, wie einer Wurzeln schlägt. Nierth hat sie nicht zuschauen lassen. Er hat sie angesprochen, gegrüßt, ins Gespräch verwickelt, sie in seine vielen Projekte eingebunden. Er kann zu sehr vielen Leuten im Dorf eine Geschichte erzählen. Nierth ist ein Kümmerer, einer, der fest daran glaubt, dass aus Zuwendung auch im abgestorbensten Ort Gemeinschaft entstehen kann. Oder glaubte.
Als er herzog, da hat er gewusst, dass nicht alles gut ist hier im Land. Dass die Arbeitslosigkeit hoch ist, dass es wenig Jugendbetreuung gibt, dass viele Menschen sich als Verlierer fühlen. Dass sie allesamt einen Systembruch verkraften mussten, der einen aus der Kurve tragen kann. Er sagt, viele hätten „den inneren Anschluss an die Gesellschaft“ verpasst, und nun verharrten sie in einer Art aggressiven Passivität. In Tröglitz sah er zudem ein ganz besonderes Problem: „Hier konnte kein sozialer Zusammenhalt entstehen“, sagt Nierth. „Der Ort hat keine gewachsene Struktur, kaum Zivilgesellschaft.“ Und er hat seine Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet.
Tröglitz war keine Gemeinde, sie wurde 1937 von den Nationalsozialisten am Reißbrett entworfen, als Siedlung für Arbeiter der Braunkohle-Benzin AG. Die IG Farben wandelte Kohle in Treibstoff um. Sie siedelte Arbeiter aus allen Teilen des Reichs an. Man kann das nirgends erfahren, wenn man hier herumspaziert.
Und nichts erinnert an das Grauen des letzten Kriegsjahres. Nach einem Fliegerangriff 1944 brauchte Tröglitz Arbeiter. Die SS errichtete ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. 5000 Menschen hausten bei Tröglitz in einer Zeltstadt und später in nahen Baracken. Tausende starben an Unterernährung, Misshandlung, Gewalt. Einer der Häftlinge war der ungarische Jude und Schriftsteller Imre Kertész. Der Nobelpreisträger hat die Zeltstadt in seinem „Roman eines Schicksallosen“ beschrieben. In Tröglitz heißt nicht einmal eine Straße nach ihm.
Markus Nierth bemüht diese Vergangenheit nicht für eine psychologische Erklärung der Gegenwart. Er sitzt an diesem Nachmittag in seinem Arbeitszimmer, dunkler Gründerzeitschreibtisch, jägergrüne Wände, der Hund kaut schmatzend und knirschend an einem Stück Holz herum. Das Tier ist jung, man fragt sich, ob die Familie sich nach einem Wächter sehnte. Wie geht es jetzt für die Nierths weiter? „Ich weiß es einfach wirklich nicht.“ Schweigen? Wegziehen? Undenkbar. „Aber“, sagt Nierth, „es kostet alles sehr viel Kraft.“
Auf der Seite liegt ein Papierstapel, zusammengeheftet. Es sind einige der Drohbriefe, die die Nierths so bekommen. „Weißer arischer Widerstand“ steht drauf. Es geht ums Töten und darum, dass Nierth verschwinden soll. Die Briefe sind jetzt seltener geworden. Eine Zeit lang bekam die Familie jede Woche ein Kuvert, gefüllt mit frischem Kot. „Verschwindet aus Tröglitz“, stand drauf.
Nierth wollte genau hierher, als er in den 90ern zurück nach Sachsen-Anhalt ging. „Nach der Wende war ich dauernd in der Gegend“, sagt er. „Ich liebe die Menschen hier, ihre direkte, unverstellte Art.“ Er war in der Gegend von Weißenfels aufgewachsen, der Vater Superintendent, die Familie reiste 1986 in den Westen aus. Ohne diesen Schritt hätte Nierth kein Abitur, er hätte nicht Theologie studieren können. Er wollte aber zurück.
In Tröglitz machte er alles gleichzeitig: er baute und werkelte, er gründete ein Missionswerk und seine Familie, er engagierte sich in der Jugendarbeit und in der Kirche, er ging so lange auf die Leute zu, bis sie eben nicht mehr auswichen. Er baute in einem Nachbarhof Wohnungen aus und vermietete sie. Manche Projekte funktionierten auch nicht, so wie die Sache mit der Mission. Mit Gott wollen die Leute wenig zu tun haben. Nierth sattelte um, jetzt arbeitet er als freier Trauerredner. Denn wenn gestorben wird, dann braucht es doch ein paar Worte von jemandem, der wenigstens so sprechen kann wie ein Pfarrer. Und weil „der Markus“ über die Jahre praktisch jeden der 2800 Tröglitzer kennenlernte und es an politisch engagierten Menschen fehlte, ließ er sich auch überreden, fürs Ortsbürgermeisteramt zu kandidieren.
Als er im Winter die Gerüchte hörte, wonach 50 Asylbewerber in der Gemeinde unterkommen sollten, da machte er, was er immer machte: er ging ins Offene, um die Leute zu überzeugen. Im Gemeindeblatt schrieb Nierth einen Text, in dem er versuchte, mit den Tröglitzern über deren „Ängste“ ins Gespräch zu kommen.
Kurz darauf folgte auf dem Friedensplatz der erste „Lichterspaziergang“, organisiert von Steffen Thiel, Ex-Tröglitzer und NPD-Kreisrat. „Auf einmal traf ich meine Jugendlichen von damals als Demonstranten, die mir was entgegenbrüllen.“ Der Zorn, der sich da auf einmal Bahn brach – auf der Straße, vor allem aber in den sozialen Netzwerken – und der bis heute dort zu besichtigen ist, der mündete beim achten „Spaziergang“ im Vorhaben des NPD-Mannes, „beim Markus vor die Tür“ zu gehen.
Nierth erfuhr davon nur durch Zufall, er bat beim Landkreis um Unterstützung. Nichts passierte. Da trat er zurück. Die NPD triumphierte. „Auf zum Nächsten“ lautete eine Parole auf Facebook. Wenig später erhielt der Landrat Morddrohungen. Vier Wochen später brannte das Haus.
Nierth war nach dem Feuer sprachlos vor Entsetzen. Er erinnert sich heute noch an das Gefühl der Ohnmacht. „Ich dachte damals, vielleicht kippt die Stimmung jetzt“, sagt er. Aber das Gegenteil passierte. Nicht Betroffenheit breitete sich aus, sondern ein Haufen Abwehrgerüchte. Der Eigentümer habe das Haus vielleicht selbst angezündet, Versicherungsbetrug. Auch Nierth geriet ins Visier. Er musste sich vorwerfen lassen, „die Medien“ nach Tröglitz geholt zu haben, die nun das Bild eines Nazidorfs malten. Im Internet wird die Familie angefeindet. Auch, weil inzwischen drei Flüchtlingsfamilien in Tröglitz leben, zwei davon in Wohnungen, die von Nierth verwaltet werden.
Am Donnerstag hat die Staatsanwaltschaft einen Tatverdächtigen verhaftet, einen jungen Mann aus der Nachbarschaft des geplanten Heims, wie die FAZ schreibt. Er sympathisiere mit der NPD und sei bei den „Spaziergängen“ mitmarschiert.
Vielleicht wird es nach der Festnahme jetzt ruhiger in Tröglitz. Bis dahin versucht die Familie irgendwie weiterzumachen. Markus Nierth hat schon ein neues Projekt. In Schlappen geht er in großen Schritten über die Straße in den gegenüber liegenden Hof. Hier unten im Erdgeschoss will er ein Begegnungszentrum für die Tröglitzer und die Flüchtlinge einrichten. „Es ist doch mein Zuhause“, sagt er. „Wie soll ich da so schnell aufgeben?“
Die Regel und ihr Gegenteil
Katja Bauer missachtet einige Regeln, die Volontäre häufig hören. An ihrem Text kann man sehen, warum das Gegenteil von der Regel manchmal die bessere Alternative ist. Um sich entscheiden zu können, muss man wissen, was man sagen will.
Die Aussage
Katja Bauer hat entschieden: sie erzählt ihren Lesern, was Herrn Nierth bewegt, sich um das Miteinander in Tröglitz zu kümmern, auch um ein Miteinander mit Flüchtlingen. Und warum er das tut, obwohl er krasse Anfeindungen erlebt. Die Leser sollen miterleben, wie das so ist in Tröglitz.
Der Aufbau in Absätzen
Die Geschichte entfaltet sich in 22 Absätzen. Fünf Absätze zu Beginn (blau) beschreiben Tröglitz, den Schauplatz, und erzählen, was jüngst geschah. Der Protagonist Markus Nierth (rot) tritt erst im fünften Absatz auf, kommt aber in der Mitte und am Ende des Textes prominent ins Bild. Die Gegenspieler oder der zweite Protagonist sind „die Dorfbewohner“, in den Absätzen blau markiert. Sie treten alternierend mit Markus Nierth auf die Bühne. Brigitte Seibold hat dieses Prinzip mit einer Zeichnung anschaulich gemacht. In den Absätzen 11 und 12 – in der Mitte – stellt Katja Bauer die Nazi-Vergangenheit des Ortes dar.
- Gang durch Tröglitz, das Flüchtlingsheim
- Szene „Sind das Ihre Kastanien?“
- verkohlte Dachbalken als Zeichen für Fremdenhass
- Tröglitz als Symbol für Anschläge
- Markus Nierth, zurückgetretener Bürgermeister, spricht als erster kommunaler Politiker über Druck und Anfeindungen
- Tröglitz, Ort der Schande
- die Dorfbewohner grüßen kaum
- der Markus ist keiner, der ausweicht
- Nierth, der Kümmerer schlägt Wurzeln in Tröglitz
- Nierth versteht und erklärt die aggressive Passivität seiner Mitbürger
- Tröglitz, Reißbrettsiedlung der Nazis
- Tröglitz, Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald
- Szene Nierth im Arbeitszimmer, ratlos, mit jungem Hund
- Drohbriefe an Nierth
- Nierths biographischer Hintergrund
- Nierth geht auf die Leute zu, wird Trauerredner, wird Bürgermeister
- Nierth schreibt im Gemeindeblatt pro Asylbewerber
- der erste Lichterspaziergang
- die NPD triumphiert, Parolen und Drohungen
- nach dem Brand – Nierth wird angefeindet
- ein Tatverdächtiger wird verhaftet
- Nierth will ein Begegnungszentrum einrichten. Ende mit dem Zitat: „Wie soll ich so schnell aufgeben?“
Die Regel und ihr Gegenteil
Regel 1: Vermeide es, deine Ankunft und Annäherung an einen Ort zu beschreiben. Das ist langweilig. Volontäre lernen stattdessen die Regel: Beginne mit einem Erdbeben und steigere langsam.
Das Gegenteil von Erdbeben klingt so: „Es kann einem Eigenartiges passieren, wenn man in Tröglitz durch die Ernst-Thälmann-Straße geht, vorbei an der Brandruine des Hauses…“
Gut so. Warum? Weil „Eigenartiges“ bereits ein Versprechen enthält und neugierig macht. Weil die Atmosphäre in Tröglitz exemplarisch und für den Verlauf der Geschichte wesentlich ist. Weil das Erdbeben Monate vorher hinreichend beschrieben wurde.
Regel 2: Stelle deinen Protagonisten möglichst im ersten Absatz vor, gerne in einer charakteristischen Szene. Das Gegenteil ist, wenn der Protagonist wie hier erst im fünften Absatz auftaucht. Allerdings ist er im Lead schon mit einer zentralen Eigenschaft angekündigt: „der Unermüdliche“.
Der späte Auftritt funktioniert, weil die unausgesprochene Frage im Lead – warum macht der das? – sich längst im Hirn der Leser eingenistet hat und drängender wird, während Katja Bauer das Ungeheuerliche der Geschehnisse und ihre Symbolhaftigkeit plastisch und präzis nachzeichnet.
Regel 3: Geh nah an deinen Protagonisten. Erzähle aus seiner Perspektive, schaffe Einfühlung und Identifikation.
Katja Bauer tut genau das nicht. Sie bleibt in Distanz zu Markus Nierth. Sie läßt Leser verstehen, was ihn treibt, aber sie treibt sie nicht ins Mitgefühl oder gar Mitleid. Im Making of sagt sie dazu den schönen Satz: „Es geht mir nicht um Mitgefühl, es geht um Politik“. Interessant, wie gut das funktioniert: Nierth verstehen, ohne mitzuleiden.
Regel 4: Erzähle eine Handlung, in deren Verlauf der Held sich wandelt. Das Gegenteil davon ist, wenn der Held sich nicht wandelt. Nierth gibt sein Amt auf, vernünftigerweise, wie es scheint, aber von seinem Bemühen um ein friedliches Miteinander in Tröglitz läßt er sich um keinen Preis abbringen. Von Wandlung oder Veränderung des Protagonisten findet sich so gesehen keine Spur. Das ist – so die Lehre – ziemlich unspannend. Wie also entsteht hier die Spannung? Es ist einigermaßen unfassbar, dass Nierth sich angesichts seiner Erfahrungen eben nicht wandelt. Das ist extrem spannend.
Regel 5: Sei nicht redundant. Im Gespräch erläutert Katja Bauer, warum sie vor Wiederholungen keine Angst hat und gerne im Rhythmus gesprochener Sprache schreibt.
Der Storycheck
Gibt es Held, Ort und Handlung?
Der Ort spielt eine zentrale Rolle, entsprechend anschaulich und prominent stellt Katja Bauer ihn dar. Tröglitz ist Schauplatz und Symbol für Fremdenfeindlichkeit.
Der Held des Textes ist Markus Nierth. Sein Ziel, sich zu beheimaten, verfolgt er gegen alle Hindernisse. Er macht und tut, ist sehr aktiv, macht aber keine sichtbare Entwicklung durch.
Es gibt zwei Handlungen. Katja Bauer beschreibt die Entwicklung von Winter 2014, als bekannt wird, dass 50 Flüchtlinge nach Tröglitz kommen sollen, über den Rücktritt Nierths und den Brand des Flüchtlingsheims bis hin zur Verhaftung eines Tatverdächtigen im Oktober 15.
Und sie erzählt die Geschichte von Markus Nierth, der 1998 nach Tröglitz zieht, getrieben von der Sehnsucht, sich zu beheimaten, der Wurzeln schlägt, erfolglos missioniert, eine Familie gründet, Dächer deckt, Gemeinschaft zu stiften versucht und an seinem Ziel gegen alle Widerstände festhält.
Autorin
Katja Bauer
Katja Bauer, Jahrgang 1968, ist Reporterin und Kolumnistin der Stuttgarter Zeitung in Berlin. Sie schreibt am liebsten über Menschen, über die Gesellschaft, in der sie zusammenleben, und über die Gründe dafür, warum Menschen an deren Ränder geraten: rechts, links, oben, unten. Frühere berufliche Stationen: Zeitungsvolontariat, Redakteurin der Stuttgarter Zeitung, dpa in Hamburg und Berlin.
Katja Bauer im Gespräch mit Marie Lampert
Könnte man sagen, Sie erzählen die Geschichte eines Helden, der jetzt gegen die Gesellschaft kämpft, in der er lebt?
Nein. Sein größter Wunsch ist ja, mit dieser Gesellschaft zu sein. Er liebt diese Menschen. Und es hat ja sehr lange auch ganz gut funktioniert. Er hat sich nicht mal davon entmutigen lassen, dass sein Missionswerk komplett gescheitert ist. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Nierth und den Dorfbewohnern. Man könnte es so sehen: Nierth ist ein solcher Kümmerer, dass er sich auch um eine Gesellschaft kümmert, die nicht danach verlangt.
Höre ich da gewisse Vorbehalte gegen klassische Erzählmuster?
Ich beobachte einen Hang, mit starken Thesen zu arbeiten, auch die starke Literarisierung von Zeitungsreportagen. Ich komme immer mehr ab von diesem Muster: hier ist mein Held, hier ist mein Antiheld. Natürlich will man, dass Menschen Geschichten lesen, und natürlich ist das Weglassen nötig. Aber die Gefahr einer starken These ist, dass man keine Zwischentöne mehr wahrnimmt.
Mit These meinen Sie das Zuspitzen und Über-Dramatisieren?
Ich finde, dass die Geschichten sich immer mehr gleichen. Man wird mit Empathie erschlagen, es tropft. Das kann man billig herstellen. Man hat das Gefühl, wir nähern uns der Moritaten- und Bänkelsängerei.
Den Vorwurf kann man Ihnen nicht machen. Ihr Protagonist Markus Nierth bleibt mir eher fern. Ich verstehe seine Beweggründe, aber es kommt nicht zur Identifikation oder zum Mitfühlen.
Das war Absicht. Herr Nierth ist eine handelnde Person. Keine andere Quelle sagt etwas über Herrn Nierth. Ich habe die Ermittlungen recherchiert, aber ich finde es ein handwerkliches Gebot, zu diesem Menschen soviel Abstand zu halten, dass man es für möglich hält, dass auch er seinen Teil beiträgt, so seltsam das in diesem Zusammenhang klingt. Der Mann ist kein Opfer. Er ist zwar Opfer von Bedrohungen und Anfeindungen, aber er tut, was er tut, sehr bewusst. Es geht mir nicht um Empathie, sondern um Politik.
Ihr Held kommt erst im fünften Absatz ins Bild, vom Foto und dem Lead mal abgesehen. Warum so spät?
Weil Tröglitz so weit von uns weg ist. Solche Orte versacken in unserem Bewusstsein. Sie schreien uns an, wenn es da brennt. Man sieht das Bild mit den verkohlten Dachbalken, die wie Gerippe in den Himmel stechen. Ansonsten hat man vielleicht noch den Namen im Kopf. Es bedarf einer langsamen Annäherung. Man will da nicht hin, man kommt nicht rein, kommt nicht ins Gespräch – dafür stehe dieser Anfang auch. Ich wollte auch erzählen, wie komisch das ist, dass Markus Nierth da hinwollte. Das war für mich das große Rätsel.
Was war Ihr Fokus?
Ich wollte die Kraft und die Energie zeigen, die Herr Nierth darauf verwendet hat, in Tröglitz Wurzeln zu fassen. Man versteht ja nicht, wie jemand in so ein im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenes Dorf zieht und dort aus dem Nichts etwas aufbaut, was es da nicht gegeben hat, und was, wie sich herausstellt, keiner verlangt hat. Dieses Immer-Weitermachen ist offenbar ein Persönlichkeitszug.
Sie schreiben nur an zwei Stellen szenisch. Beim Kastaniensammeln zu Beginn und in der Mitte des Textes, da sitzt Markus Nierth in seinem Arbeitszimmer. Das ist spartanisch, wenn man bedenkt, wie viel sie gesehen und gesprochen haben.
Im Nachhinein ist das eher eine Schwäche des Textes. Das hätte ich mehr machen können. Es unterstützt aber die distanzierte Haltung, insofern hat es auch was Gutes.
Sparsam sind Sie auch mit Zitaten. Oder?
Ich habe kein Band mitlaufen lassen. Ich wollte Herrn Nierth in die Augen sehen und möglichst wenig in den Block gucken. Es ging darum, in der begrenzten Zeit das Vertrauensverhältnis zu halten. Deshalb hatte ich gar nicht so viele wörtliche Zitate.
Zu Ihrer Sprache. Sie haben offenbar keine Angst vor Wiederholungen. „Es kann einem Eigenartiges passieren…“ heißt es im ersten Absatz. Im zweiten schreiben Sie, wenn man „ein paar Kastanien aufsammelt, dann kann es passieren…“ Warum machen Sie sowas?
Weil es nahe am Sprechen ist. Jemand tut eine Reise und erzählt: „Neulich war ich in Tröglitz, da ist mir Folgendes passiert…“ Ich höre solche Wiederholungen häufig, wenn Menschen sprechend erzählen und nicht schreibend. Ich glaube, dass das Nähe herstellt.
Der Begriff „Zivilgesellschaft“ sticht als Abstraktum aus dem Text heraus. Er fällt im Zitat. Sie vermeiden solche Begriffe?
Bei Wörtern wie „Zivilgesellschaft“ hab ich Angst, dass mir mein Leser von der Fahne geht. Bei mir geht da beim Lesen die Jalousie runter. Das sind Wörter aus Reden. Aber ich will, dass der Leser in Tröglitz bleibt. In Tröglitz gibt es nichts Abstraktes.
Es gibt Zeichen und Symbole. „Fotos von Dachbalken wurden zum Zeichen“, „Tröglitz wurde zum Symbolbegriff“, zum „Ort der Schande“. Auch das „Kuvert gefüllt mit Kot“ ist ein Symbol.
Da ging es drum, sehr schnell eine Atmosphäre der Beklemmung herzustellen.
Und angesichts des jungen Hundes fragen Sie sich, ob er dafür steht, dass sich die Familie nach einem Wächter sehnt.
Ich hab mich nicht getraut zu fragen. Die Situation war nicht danach. Später hab ich mich geärgert, dass ich nicht gefragt habe. Das kommt bei mir gar nicht so selten vor. Ich stelle nicht jede Frage, die mir in den Kopf kommt.
Es gibt ja manchmal gute Gründe. Es ist nicht nur: Ich trau mich nicht.
Wir müssen uns fragen, was wir als Journalisten tun. Wir schürfen in den Leben anderer Leute und das hat Grenzen. Wir hinterlassen ihnen Fragen, mit denen sie dann auch klarkommen müssen.
Haben Sie nach der Recherche in Tröglitz etwas verstanden, was Sie vorher nicht verstanden hatten?
Ich hab zwei Sachen verstanden. Dass Herr Nierth sich beheimaten will, und das die Frage nach dem Weggehen oder nicht für ihn keine Frage von Gewinnen und Verlieren ist, sondern von Existieren. Und ich hab für mich verstanden, dass es noch viel schlimmer ist, als ich dachte. Dass dieser offene Hass mit Händen zu greifen ist.
Ihr Text schließt mit einer Frage. Markus Nierth fragt: „Wie soll ich da so schnell aufgeben?“
Ich hab mit großer Absicht mit dieser Frage aufgehört, denn Herr Nierth hat darauf keine Antwort. Für ihn ist der Satz „das ist doch mein Zuhause“ offenkundig sein Anker und seine Rettung. Aber er fragt gleichzeitig „Wie soll ich da so schnell aufgeben?“ In dieser Frage steckt die Möglichkeit, aufzugeben. Und die ist sehr greifbar.
Ich danke Katja Bauer und der Stuttgarter Zeitung für das kostenfreie Überlassen der Rechte.