Entspannung pur: Selbst Polizisten häkeln
Tim Pittelkow und Carsten Krämer arbeiten bei der Hubschrauber-Staffel der Polizei. Nach Feierabend häkeln sie Mützen für ihr Label „Häkelhelden“. Bei vielen anderen wächst ebenfalls die Sehnsucht nach Selbstgemachtem.
Von Martina Stöcker
DÜSSELDORF Am Anfang ernteten Tim Pittelkow (33) und Carsten Krämer (36) komische Blicke, wenn sie von ihrer Masche redeten. Kettmaschen, Luftmaschen, halbe Stäbchen und Doppelstäbchen – mit diesen Begriffen konnten die Kollegen nichts anfangen. „Sie sagten: ,Früher haben wir über Autos und Kinofilme geredet – jetzt sprechen wir hier übers Häkeln’“, erzählt Tim Pittelkow. Mittlerweile haben sich aber die Männer der Polizeihubschrauber-Staffel am Düsseldorfer Flughafen mit dem Hobby der Kollegen arrangiert. Und sie haben bei ihnen schon die ersten Mützen bestellt. Die Polizisten Tim Pittelkow und Carsten Krämer sind die „Häkelhelden“. Unter diesem Namen vertreiben sie selbst gehäkelte Mützen (zwischen 25 bis 35 Euro) aus feiner Merino-Wolle. Fünf Euro pro Verkauf gehen als Spende an den „Weißen Ring“, der sich um Kriminalitätsopfer kümmert. Vier Häkelnadeln in Handschellen sind das Logo der handarbeitenden Helden.
Erste Versuche
Tim Pittelkow machte den Anfang, als er im April vergangenen Jahres eine Mütze im Internet bestellt hatte, die ihm nicht gefiel. „So schwer kann das doch nicht sein“, dachte er sich und brachte sich mit Videos aus dem Internet die Maschentechnik selbst bei. Nach mehreren Versuchen, die eher an Sombreros und Klodeckel-Abdeckungen erinnerten, nahm das Werk aus Wolle langsam, aber sicher eine mützenartige Form an. Kollege Carsten belächelte die Häkelei erst, wollte aber dann auch solch eine coole Mütze haben. „Was der kann, kann ich auch“, dachte er sich und legte ebenfalls los. Und so häkeln die beiden nach dem Dienst, bis ihre Frauen von der Arbeit nach Hause kommen. Oder sie greifen abends beim Fernsehen zu Nadel und Knäuel. Der Kopf schaltet ab, die Hände sind beschäftigt. „Das ist Entspannung pur“, sagen sie. Und: „Unsere Mützen sind 100 Prozent Handarbeit.“
Trendsport Stricken
„Do it Yourself“ (DIY) – mach es selbst – liegt derzeit voll im Trend. Besonders das früher als piefig empfundene Handarbeiten hat sein Image total gewandelt. Mit Hippies oder Ökos hat es nichts mehr zu tun: Kaum ein Hochglanzmagazin zu Wohnen und Lebensstil kommt derzeit ohne gestrickte oder gehäkelte Accessoires aus – sei es zum Beispiel ein Pouf oder ein Kissen. Läden für Stoffe und Nähbedarf eröffnen wieder, nachdem es lange Zeit kaum möglich war, in einer Stadt einen Knopf zu kaufen. Verkaufsportale wie dawanda.de oder etsy.de boomen und sind Plattform für Kreative, deren Freunde und Verwandte schon mit selbst gestrickten Socken oder Handy-Täschchen überversorgt sind. In Städten wie Hamburg, Berlin oder Düsseldorf treffen sich Strickclubs (meist Frauen) in Cafés oder Kneipen zum gemeinsamen Stricken und Schnacken.
Wachsende Umsätze
Auch Superstars wie Popsängerin Madonna oder die Schauspieler Sarah Jessica Parker und Ryan Gosling bekennen sich zum Stricken. Der Gesamtmarkt für Handarbeitsbedarf ist im vergangenen Jahr um 15 Prozent auf rund 1,2 Milliarden Euro Umsatz gewachsen. Besonders groß waren die Zuwächse in den Bereichen Handstrickgarne und Nähen, teilt die „Initiative Handarbeit“ mit, der Verband der führenden Anbieter dieser Branche. Mittlerweile geben 58 Prozent der Frauen in Deutschland Handarbeiten als Hobby an – rund ein Viertel dieser Frauen ist jünger als 40 Jahre.
Schnelle Erfolge
Beate Löddenkötter strickt, seitdem sie 15 Jahre alt ist. In ihrem Laden „Vielfach“ in Düsseldorf-Pempelfort bietet sie Strickkurse an. Die sind sehr gefragt. „Es kommen viele jüngere Frauen zu mir, die sagen: ,Meine Mutter kann mir Stricken nicht beibringen – sie kann es selbst nicht’“, sagt die 49-Jährige. Die Industrie hat sich auf die Neu-Einsteiger eingestellt. Mit dicken Nadeln und vielfarbiger dicker Wolle lassen sich etwa Loop-Schals im Nullkomma- nix selbst stricken. Das schnelle Erfolgserlebnis ist garantiert.
Schön anzufassen
Die moderne Arbeitswelt ist ein Grund für den Wunsch vieler Menschen, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Denn diese zwei Exemplare à fünf Finger sind nicht nur dazu da, über Displays zu wischen oder mit einer Computermaus zu klicken. Beim Stricken oder Häkeln gleitet die weiche Wolle durch die Finger; solch eine Arbeit stiftet eine besondere Beziehung zwischen dem Produkt und seinem Macher, die in einer industrialisierten Welt kaum noch erfahrbar ist. Jedes handgearbeitete Stück ist ein Unikat, weit weg von Massenware.
Socken fürs Leben
So gehören Handarbeit und Nachhaltigkeit fest zusammen. „Etwas Eigenes hat einen besonderen Wert: Selbst gestrickte Socken würde ich immer stopfen und nicht wegwerfen“, sagt Beate Löddenkötter. DIY ist auch ein Mittel zum Selbstmarketing: Man stellt sich als Individuum dar und erfährt Anerkennung. So durchströmt jeden ein besonderes Gefühl, wenn er angesichts eines selbst genähten Kleides sagen kann: „Das habe ich selbst gemacht.“
Die Baby-Kollektion
Ihre erste selbst gehäkelte Mütze halten Tim Pittelkow und Carsten Krämer in Ehren. „Sie wird mit Stolz getragen“, sagen sie. Und Carsten Krämer hat schon das nächste Projekt im Blick: Ende April wird er zum ersten Mal Vater. „Meine Tochter wird vermutlich alle zwei Monate eine neue Mütze bekommen.“ Das erste selbst gehäkelte Exemplar hat ihm allerdings schon ein Freund für sein Baby abgeschwatzt.
Analyse
Lupenreines Feature
Der Text von Martina Stöcker ist ein klassisches Feature: eine allgemeingültige Aussage (Handarbeiten ist in) wird an einem anschaulichen Beispiel (den beiden Polizisten) illustriert. Er lebt vom Charme seiner Protagonisten, vom lokalen Bezug und nicht zuletzt von den erzählerischen Elementen.
Vom Besonderen ins Allgemeine
Der Text steigt ein mit den lokalen Helden in Nahaufnahme, führt über den Strickclub ins Allgemeine der Daten und Fakten und belegt die These „Do it Yourself ist ein Trend“ anschaulich und überzeugend. Martina Stöcker steigt dabei nicht chronologisch in die Handlung ein, die beginnt, als Tim Pittelkow eine Mütze im Internet bestellt und mit dem Führen seines eigenen Häkelshops endet. Vielmehr lässt sie die Häkelhelden zu Beginn „komische Blicke“ der Kollegen ernten.
Leser abholen, Kontraste schaffen
Der Einstieg reizt Leser über das Spiel mit Rollenerwartungen und Vorurteilen: Polizisten sind echte Kerle, die von der Hubschrauber-Staffel sind besonders echte Kerle, und dass die häkeln, wundert einen schon. Ein Kunstgriff: Die Hubschrauber-Kollegen gucken komisch. Damit sind sie wunderbare Identifikationsfiguren, denn es fragen sich ja auch die Leser: Was sind denn das für komische Helden?? Und schon sind sie im Text gefangen. Es wird ihnen beim Lesen gehen wie den Polizisten-Kollegen: Erst komisch gucken, dann Häkelmützen-Fan werden.
Vorher-Nachher
Ein charakteristisches Element von Geschichten im Gegensatz etwa zu Nachrichten besteht darin, dass sie die Veränderung zwischen einem Vorher und einem Nachher beschreiben. Die Trend-Geschichte der Rheinischen Post enthält sogar eine Reihe solcher Vorher-Nachher-Elemente:
vorher: Tim Pittelkow bestellt sich eine Mütze im Netz
nachher: er vertreibt seine eigenen Häkelmützen über die Website der Häkelhelden
vorher: die Polizisten-Kollegen gucken die Häkelhelden komisch an
nachher: sie bestellen selber Mützen
früher: Handarbeiten galt als piefig
heute: ist es in
früher: konnte man keinen Knopf kaufen
heute: gibt es Stoffläden, Internetportale, Strickclubs
vorher: Carsten Krämer ist kinderlos
nachher: zwei Monate nach Erscheinen des Textes wird Krämer Vater
Der Aufbau
Anfang: Lokal und konkret
Die Häkelhelden, ihr Job, ihre Kollegen (Einstieg)
Die Häkelhelden und ihr Häkel-Business (Hintergrund)
Die Häkelhelden lernen häkeln (Rückblende)
Mitte: Allgemein und abstrakt
Do it Yourself ist trendy (Behauptung)
Läden, Portale, Strickclubs, Prominente (Argumente)
Zahlen zum Markt und den Kundinnen (Beweise)
Die Ladenbesitzerin aus Düsseldorf-Pempelfort (lokal und konkret)
Warum Handarbeiten im Trend liegt (psychologischer Erklärungsansatz)
Ende: Lokal und konkret (Klammer zum Anfang)
Die Häkelhelden und ihre erste Mütze
Carsten Krämer in Erwartung seiner künftig liebsten Kundin (Ausblick)
Die Babymütze für die erwartete Tochter wurde ihm bereits abgeschwatzt (Pointe)
Der Schluss
Schlüssiger und herziger geht‘s nimmer. Martina Stöcker schlägt den Bogen zurück zum Anfang.
Autorin
Martina Stöcker
Martina Stöcker ist seit Oktober 2012 stellvertretende Leiterin des Ressort „Report“ (Seite 3, Gesellschaft, Panorama) der Rheinischen Post. 1973 in Köln geboren, studierte sie Geschichte, Französisch und Italienisch. Nach dem Volontariat war sie ab 2002 zwei Jahre Sportredakteurin, anschließend zwei Jahre Redakteurin in der Lokalredaktion Düsseldorf und wechselte 2006 in die Redaktion des Wochenend-Magazins.
Mir war schon seit einiger Zeit aufgefallen, dass Handarbeiten wieder in ist. In der Nähe meiner Wohnung hatte ein Stoffladen aufgemacht; die dort angebotenen Nähkurse waren immer ausgebucht. Und auch meine Freundinnen sagten – zunächst noch etwas verschämt –‚Ich mache jetzt einen Nähkurs!‘. Ich wollte zeigen, dass Handarbeiten jetzt cool ist, hip und modern.
Beate Loddenkötter, die Besitzerin des Handarbeitsladens, die Strickkurse anbietet – kam praktisch in den Briefkasten geflattert, allerdings in den eines Kollegen. Er machte mich auf ihren Flyer aufmerksam, den er bekommen hatte. Außerdem habe ich noch eine Gruppe angeschrieben, die sich zum gemeinsamen Stricken in Cafés oder Kneipen trifft und sich über ihre Handarbeiten austauscht. Aber da hat sich niemand rechtzeitig gemeldet, sonst hätte ich sie gerne getroffen. Das wäre perfekt gewesen für die Geschichte.
Ich versuche, die Geschichte von Menschen zu erzählen und immer einen Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Man merkt ja selbst, dass man am liebsten etwas über Menschen liest, über ihre Schicksale. Auch in ein trockeneres Thema zieht man Leser am ehesten hinein, wenn man es an Menschen entlang erzählt.
Ich danke Martina Stöcker und der Rheinischen Post für das kostenfreie Überlassen der Rechte.